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Digitaler Overload bei Kindern

Autorenbild: Lisa GutzelnigLisa Gutzelnig

Was das dauernde Online- und Verfügbar-Sein insbesondere in jungen Jahren für die Gehirnentwicklung bedeutet und wie Eltern helfen können, erklärt der Hirnforscher Gerald Hüther in seinem Buch „Education for Future – Bildung für ein gelingendes Leben“.

Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab. Was wir früher einfach mit dem Kopf gemacht

haben, wird heute von KI, Computern, Smartphones, Organizern und Navis erledigt. Das bringt aber nicht nur Erleichterung in unseren Alltag, sondern birgt auch Gefahren. Immer häufiger beobachten Heilpraktiker:innen und Ärzt:innen in ihren Praxen Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Schon einfache Bewegungs- und Gleichgewichtsübungen bereiten den Sprösslingen Probleme und ihre Konzentrations- und Aufmerksamkeitsspanne werden zunehmend geringer. Obwohl die Ursachen dafür vielfältig sein können, sticht ein Phänomen besonders heraus: die übermäßige Nutzung digitaler Medien – auch als „digitaler Overload“ bezeichnet.


Digitale Demenz


Die sogenannte „digitale Demenz“ ist ein relativ neues Krankheitsbild. Erste Beobachtungen in großem Maße gab es dazu im Jahr 2007 in Südkorea. Immer häufiger wurden dort bei jungen Erwachsenen Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen bemerkt, außerdem waren emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung zu beobachten. Als Ursache wurde die Nutzung digitaler Medien ausgemacht.


Viele Ärzt:innen berichten, dass teilweise einfache Bewegungsübungen in der Praxis nicht mehr altersgerecht durchgeführt werden können. Ein Beispiel: Ein neunjähriges Kind möchte auf die Arzt-Liege springen und ballert stattdessen unbeholfen dagegen. Die zunehmenden Störungen von geistigen, seelischen und motorischen Entwicklungen haben natürlich viele Ursachen. In Kindergärten und Schulen werden viele Anstrengungen unternommen, um die möglichen Ursachen wenigstens zu vermindern. Ob die Methoden ausreichend sind, bleibt zweifelhaft. Bei einer Umfrage bestätigten zwei Drittel der befragten Ärzt:innen eine zunehmende selektive Entwicklungsstörung der behandelten Kinder und Jugendlichen zu beobachten. Es waren allesamt Kinder, die keinerlei Intelligenzstörungen aufwiesen.

Die Fähigkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren, nimmt bei Kindern besorgniserregend und rasant ab, je länger sie ein Smartphone nutzen.
Die Fähigkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren, nimmt bei Kindern besorgniserregend und rasant ab, je länger sie ein Smartphone nutzen.

Nutzung des Gehirns


Was ist nun das konkrete Problem der intensiven Nutzung digitaler Medien durch Kinder? Das menschliche Gehirn besteht aus einigen Hundert neuralen Schaltkreisen, die wie ein Muskel durch entsprechendes Training wachsen und dichter werden können. Der Grund dafür ist das Verhalten mehrerer Hundert Millionen Synapsen, die ständig im Wandel – also im Ab-, An- und Umbau – sind. Was nicht gebraucht wird, wird abgeräumt, was vermehrt gebraucht wird, nimmt zu. Wenn Neues gelernt wird, entstehen neue Synapsen. Und das ist, was das Gehirn dauernd macht: es lernt. Wenn wir das Gehirn aufgrund digitaler Helfer weniger nutzen, wird es weniger trainiert. Es nimmt ab. Das ist so ähnlich wie mit Rolltreppen oder Autos, die das Leben zwar ungemein erleichtern, gleichzeitig jedoch unsere Muskeln erschlaffen lassen, was sich negativ auf unser Bewegungspensum und letztendlich auf die Gesundheit auswirkt. Das Navi ist ein weiteres Beispiel dafür. Wer früher noch nach Karte fuhr und eventuell Passanten nach dem Weg fragte, hatte einen ganz anderen Überblick und kannte sich in kurzer Zeit in einer fremden Stadt gut aus. Heute sind wir schlichtweg verloren, sobald das Navi ausfällt oder Google Maps nicht erreichbar ist, weil wir nicht mehr geübt darin sind, uns mithilfe unserer eigenen Ressourcen und Sinne zurechtzufinden. Gleiches gilt für abnehmenden Trainingseffekte im sozialen, sensorischen und psychischen Bereich aufgrund übermäßiger Nutzung digitaler Medien. Da die Entwicklung unserer Synapsen und deren Vermehrung hauptsächlich in den ersten 25 Lebensjahren stattfinden und danach der Abbau statt dem Aufbau leider eher an der Tagesordnung steht, ist es wichtig, das Gehirn gerade im Jugendalter zu fördern. Alles was hingegen Lernvorgänge abkürzt, einseitig macht oder vermeidet, wie Suchmaschinen, TV, Spielekonsolen, dauerndes Online-Sein, Stress und Multitasking führt zu weniger Lerneffekten und damit zu weniger Hirnentwicklung.


Im Hier und Jetzt zu leben, achtsam durchs Leben zu gehen oder einfach mal der Stille lauschen. Für viele Jugendliche ist dies schlichtweg gar nicht mehr machbar.
Im Hier und Jetzt zu leben, achtsam durchs Leben zu gehen oder einfach mal der Stille lauschen. Für viele Jugendliche ist dies schlichtweg gar nicht mehr machbar.

Kinder im Kindergartenalter besonders betroffen


Je früher eine häufige Nutzung digitaler Medien beginnt, desto weniger Lernerfahrung können Kinder in diesem Alter sammeln und desto notwendiger sind zusätzliche taktile oder andere parallele Sinnesreize beim Lernen. Nur die Kombination vieler Lernerfahrungen auf verschiedenen Ebenen führt zu einer optimalen Menge an neuen Synapsen. Leider schaffen virtuelle Erfahrungen zu wenige dieser neuen Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Dadurch wird auch Lernen zu einem späteren Zeitpunkt in höherem Alter schwieriger.


Dr. Gerald Hüther ist als Hirnforscher und Neurobiologe daran interessiert, sich die

Frage zu stellen, wie sich diese Vernetzungen im Hirn so optimal miteinander verknüpfen können, dass ein Kind später im Leben sich in unterschiedlichsten Situationen richtig gut zurechtfindet. Ein glücklicher Mensch ist laut Hüther einer, der später im Leben nicht an allem scheitert, der nicht ständig in Angst und Panik gerät, sondern der sich in vielen Situationen zu helfen weiß. Der weiß, dass er Freunde hat, der weiß, dass er in dieser Welt zu Hause ist und dass er sich dort zurechtfindet. Die Frage heißt also: Was können Eltern dafür tun, dass ihr Kind so in die Welt hinausgehen kann? Die Herausforderung dabei ist die digitalisierte Welt, in der wir leben. Deshalb müssen wir uns auch zunehmend überlegen, wie wir unsere Kinder mit diesen digitalen Geräten vertraut machen können.


Altersgerecht agieren


Wir sollten nicht vergessen, dass Kinder neben dem Bedürfnis manchmal passiv zu konsumieren und unterhalten zu werden, auch ein sehr großes Bedürfnis nach eigenen Gestaltungsmöglichkeiten haben. Sie wollen bauen, etwas erschaffen und auch selbst Gestalter:innen sein. Das können sie, so Hüther, nicht machen, wenn sie in den Bildschirm starren. Kinder möchten sich bewegen und sich ausprobieren, spielerisch ihren Körper einsetzen. Das können sie auch nicht machen, wenn sie auf einem Hochstuhl im Restaurant vor einem Tablet platziert werden. Hüther ist sich sicher: Dann haben Kinder ein Problem. Denn sie müssen dann automatisch – oder wir können sagen, das Hirn macht es automatisch – das andere Bedürfnis verhindern, damit das eine ausgelebt werden kann. Dann starren sie auf den Bildschirm und unterdrücken gleichzeitig ihr Bewegungsbedürfnis, ihr Verbundenheitsbedürfnis zur Mama und alle anderen schönen Regungen, die sie eigentlich lebendig machen. „Am Ende kriegen wir Kinder, die den digitalen Geräten, die sie bedienen, eigentlich immer ähnlicher werden“. Hier lauert laut Hüther eine Riesengefahr.


Erst ein Kind, das wirklich sicher ist, und alle seine Bedürfnisse in der realen Welt ausleben kann, diese tagtäglich umsetzt und dabei Freude hat, das draußen rumrennt, spielt und ausprobiert, sollte in den Umgang mit diesen digitalen Geräten geschult werden.


Nicht mit Tablets stillhalten


Babys eignen sich schon im Mutterleib Kompetenzen an. Schwangere können ein Lied davon singen, was sie im Bauch ihrer Mama schon alles mit ihren Armen und Beinchen Schönes machen können – nahezu ständig. Deshalb ist es kein Wunder, dass sie auf die Welt kommen und davon ausgehen, dass es da draußen für sie auch richtig viel zu tun gibt. Kinder kommen mit ungebändigter Entdeckerfreude und Gestaltungslust auf diese Welt. Diese frühkindlichen Bedürfnisse

sind sozusagen der Motor, der das Kind vom Mutterleib in die Welt hinaustreibt. Wenn sie dann endlich das Licht der Welt erblicken und das Bedürfnis nach Entdecken und Gestalten da ist, geht es los. Wenn ein Kleinkind aber vor einem digitalen Gerät wie einem „Kinder-Tablet“ sitzt und permanent von der Buntheit dieser Bilder und Audioinhalten angezogen wird, geht die gesamte Aufmerksamkeit in dieses Geschehen mit dem Ergebnis, dass das Kind seine anderen Bedürfnisse alle unterdrücken muss. Weil es ja nur das entdecken kann, was aus dem Bildschirm rauskommt. Dann wachsen Kinder heran, die ihr Bedürfnis nach Nähe und Verbundenheit verlieren. Die Eltern stehen dann 15 Jahre später ratlos vor einem Teenager, wollen Nähe herstellen und das Kind hat gar keine Lust darauf. Sie wollen es in den Arm nehmen, das Kind dreht sich weg. Oder die Eltern zeigen ihrem Kind auf einmal, wie schön es ist, gemeinsam etwas zu unternehmen, aber der Nachwuchs entfernt sich, weil er lieber zurück zu seinem Computer will.



In die Stille lauschen


Meine Seele mahnte und lehrte mich,

den Stimmen zu lauschen,

die weder von den Lippen

noch von der Kehle erzeugt werden.

Bevor meine Seele mich dies lehrte,

waren meine Ohren stumpf.

Sie hörten nur auf Lärm und Geschrei.

Doch jetzt beginne ich, in die Stille zu lauschen,

ich höre ihre Chöre Kantanten singen

und Hymnen psalmodieren

und die Geheimnisse der Ewigkeit offenbaren.

(Khalil Gibran – Aus: In meiner Seele wohnt ein Lied)


Fazit


Es ist keine neue Erkenntnis der Lernphysiologie, dass Lernen eigene geistige Aktivität voraussetzt. Ebenso bekannt ist der Zusammenhang von der Tiefe der geistigen Durchdringung eines Sachverhaltes auf die Nachhaltigkeit des Lernerfolgs und die Gedächtnisleistung. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Scrollen und Tippen auf Bildschirmen genau diesen Lernprozess abflachen. Das Anklicken von Buchstaben auf einer Tatstatur erzeugt deutlich

weniger Lernimpulse an das Gehirn, als das handschriftliche Schreiben, was nicht nur motorische Defizite zur Folge hat, sondern auch inhaltliche und gedächtnisbezogene. Unterschiedliche Studien belegen Leistungsabfälle bei Schülern nach systematischer Ausstattung von Schulen mit Computern oder anderweitigen digitalen Geräten. Es ist Zeit uns bewusst zu machen, dass wir mit der unreflektierten Nutzung von digitalen Medien die Gehirnbildungsprozesse unserer Kinder beeinträchtigen und es wird nicht lange dauern, da werden wir als Gesellschaft die Rechnung dafür bekommen.


 

#Education for Future – Bildung für ein gelingendes Leben Infos:

Gerald Hüther, Marcell Heinrich, Mitch Senf - Goldmann Verlag


ISBN 978-3-442-31550-5


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